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Titel
Rechtsgefühl. Subjektivierung in Recht und Literatur um 1800


Autor(en)
Schmidt, Florian
Reihe
Literatur und Recht (8)
Erschienen
Paderborn 2020: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
XII, 369 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Miloš Vec, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Universität Wien

Schon vor der Lektüre dieses klugen Buches hat man geahnt, dass das Rechtsgefühl eine komplizierte Sache ist. Florian Schmidt wurde damit an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster promoviert und ist mit deren Dissertationspreis ausgezeichnet worden. Diese Ehrung ist für den genau arbeitenden Autor und für das interdisziplinär angelegte, perspektivreiche Buch verdient. Auf dem Vorsatz findet sich neben einem Ausspruch von Goethe auch ein Zitat des Juristen Georg Friedrich Puchta: „Ursprünglich ist das Recht ein mehr oder weniger dunkles Gefühl.“ Schmidt übersetzt den Begriff „Rechtsgefühl“ zu Anfang als „Gefühl für rechtliche Normen“ (S. 3); am Ende definiert er es als „ein normatives Fühlen, es ist auf die soziale Praxis und die sie regulierenden Rechtsnormen bezogen und setzt insofern sprachlich-begriffliches Urteilen über das Gute und Rechte voraus oder steht mit diesem zumindest in Verbindung“ (S. 326). Auf den dazwischenliegenden Seiten wird man mit so vielen bedenkenswerten Kontexten konfrontiert, dass man sich vermutlich nie wieder unbedacht auf sein eigenes Rechtsgefühl berufen wird.

Entstanden ist Schmidts Arbeit im Kontext des Projekts „Homo contractualis. Figuren der Verrechtlichung in der Moderne“, das von Sigrid G. Köhler seinerzeit in Münster geleitet wurde. Das Buch wirft die große Frage auf, welcher Platz dem Gefühl in einem sich verändernden Rechtskontext zugewiesen wird. Historischer Rahmen ist dafür die Zeit „um 1800“. Den bis in die Gegenwart reichenden, verzwickten Befund präsentiert Schmidt dem/der Leser/in schon auf Seite 2 und benennt ihn als „Ambivalenz“: Es findet „ein gleichzeitiger Aus- und Einschluss des Gefühls im Recht“ statt.

Für sein Buch liest Schmidt wissenschaftliche und literarische Quellen deutscher, englischer und französischer Sprache. Der Schwerpunkt bei den Wissenschaften liegt angemessener Weise bei der Jurisprudenz, aber auch Philosophie, Politik, Ästhetik und Geschichtswissenschaften werden fallweise und passend herangezogen. Literarisch spannt er den Bogen von Schiller und Goethe über Kleist bis zu Uhland. Das Buch Schmidts beschäftigt sich also mit dem zeitgenössischen, gedruckten Diskurs über das Rechtsgefühl und versucht diese Konstruktionen zu rekonstruieren und zu analysieren. In einer Fußnote (!) heißt es programmatisch: „Die Arbeit entwickelt also keine an der Emotionsforschung orientierte Methodik. Es geht nicht um ‚Emotion‘ als produktions- oder rezeptionsästhetische Kategorie oder um das Fühlen von konkreten Personen und dessen textueller Vermittlung, sondern um die Rekonstruktion einer Rede über das Rechtsgefühl, d.h. sowohl die Emotionalität(en) des Rechtsgefühls als auch die Subjektivität, die es impliziert, werden als Effekte diskursiver Praktiken betrachtet.“ (S. 23, Fußnote 79).

Die Anordnung der acht Kapitel ist im Wesentlichen chronologisch. Den Ausgangspunkt findet Schmidt bei Aristoteles, Oldendorp und Luther, wobei der erste eingängig analysierte Autor der Naturrechtler Samuel von Pufendorf ist. Als roter Faden zieht sich jene Stelle aus dem Neuen Testament durch das Buch, in der davon die Rede ist, dass allen Menschen die Gesetze von Gott ins Herz geschrieben seien, wie es im Römerbrief (2,15) heißt. Umso bedauerlicher ist es, dass die Theologie, die seinerzeit noch intensiv am Naturrechtsdiskurs teilhatte, kaum Eingang in das Buch gefunden hat.

Dieses Oszillieren zwischen Vernunft und Gefühl ist für die Epoche von Schmidts Buch eine besondere Herausforderung. Denn wie soll(te) man Rechtsgefühl begreifen und legitimieren, wenn sich das Recht (weiter) verwissenschaftlicht, die Aufklärung Öffentlichkeit postuliert und politische Diskurse Transparenz und Rationalität fordern? Die Antworten der Autoren sind – wie nicht anders zu erwarten – vielfältig, untereinander abweichend und sogar widersprüchlich. Es gehört zu den Stärken des Buches, dass Florian Schmidt hier angemessen differenziert im Detail arbeitet. Dazu gehören vor allem seine genauen Lektüren und Exegesen der von ihm identifizierten zeitgenössischen Diskurse und exemplarisch ausgewählten Schriften. Die Exaktheit, die sein Buch auszeichnet, hat als Kehrseite eine nicht immer ganz einfach zu lesende wissenschaftliche Diktion. An anderen Stellen hingegen blitzt eine Eleganz und Brillanz auf, die im Wechselspiel mit seinen intellektuell reichen Quellen einen wirklichen Lesegenuss beschert. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die in vielfacher Hinsicht ambivalente Novelle des Michael Kohlhaas insoweit einen Analyse-Höhepunkt in Schmidts Buch darstellt.

Interessanterweise kann sich Schmidt im Kern nur auf eine relativ schmale Basis an Sekundärliteratur zum Rechtsgefühl stützen. Denn die Erforschung von Recht und Gefühl im historischen Kontext ist eine relativ junge und noch wenig ausgebildete Sub-Disziplin an der Schnittstelle verschiedener Fächer. Den (deutschen) Rechtswissenschaften erscheint das Rechtsgefühl vermutlich als ein zu undogmatisches, kulturwissenschaftliches Thema. Impulse kamen daher vor allem aus der Literaturwissenschaft und international aus der amerikanischen Jurisprudenz und der dortigen Law-and-Emotion-Bewegung (S. 2). Einerseits erschwert das Schmidts Arbeit, andererseits lässt es ihm größere Freiheiten in Auswahl und Zuschnitt seiner Studie.

Schmidts besonderer Anspruch ist, bei der Analyse des Rechtsgefühls „mit Foucault über Foucault hinaus“ (S. 14) zu kommen. Denn seine These lautet, dass das Rechtsgefühl „eine Figur der Subjektivierung [ist]. Es wird im 18. Jahrhundert als ein Gefühl entworfen, das auf rechtliche Normen bezogen ist, diese subjektiv erkennbar macht und in praktisches Handeln übersetzt. Wie alle Gefühle ist es in der Logik des 18. Jahrhunderts auch ein Selbstgefühl und somit an der Subjektformierung beteiligt“ (S. 6). Das Wort Rechtsgefühl erscheint (wohl) zum ersten Mal gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Am Ende stehen die Juristen-Giganten Puchta und Savigny, insbesondere mit ihren „Volksgeist“-Lehren.

Der Zeitrahmen des Buchs ist daher ausgezeichnet begründet und er führt potenziell mitten in Diskussionen von Rechtsstaatlichkeit, Verfassungsstaat und auch der ersten Kodifikationswelle. Es ist naheliegend, dass weder alle diese Aspekte erschöpfend behandelt werden können noch, dass eine literaturwissenschaftliche Arbeit einen systematischen Fokus auf spezifisch juristische Fragen in historischer Perspektive legt. Stattdessen werden eher Schlaglichter auf jene Komplexe geworfen, die in den verschiedenen Diskursen in Schmidts Quellen herausragen. Juristisch gesehen werden in den verschiedenen Kapiteln also durchaus unterschiedliche Aspekte thematisiert. Schmidt selbst konzediert diese Heterogenität seiner Materialbasis (S. 23): in den einzelnen Kapiteln erscheinen Privatrecht, Strafrecht, Verwaltungsrecht, Verfassungsrecht, teils in materieller, teils in prozessualer Perspektive. Das verleiht Schmidts Analysen einerseits besondere Nähe zu den Primärquellen und den Argumenten besondere Nachvollziehbarkeit, andererseits verringert es die Vergleichbarkeit der Befunde in den verschiedenen Teil-Epochen, Regelungsfeldern und Diskursen. Aus rechtshistorischer Sicht ist besonders erfreulich, wie offen und sorgfältig Schmidt sich auf neuere und neueste Forschungsliteratur eingelassen hat.

Neben den Primärquellen liegt ein Schwerpunkt auf den mit dem Rechtsgefühl verknüpften politischen Fragen, die Schmidt mit Hilfe von Foucaults Konzept der Gouvernementalität beleuchtet. Denn er interessiert sich besonders für die „Koformierung von Subjekt und Recht bzw. Staat“ (S. 7). Völlig nachvollziehbar lautet die Prämisse, dass das Gefühl „keine Privatangelegenheit“ (S. 13) ist. Wenig einleuchtend oder jedenfalls schwach begründet ist hingegen sein Diktum, dass „das privatrechtliche Agieren in der kapitalistischen Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft formal nur noch rechtlich, nicht aber moralisch begrenzt wird“ (S. 21). Auch Schmidts Vorstellung von der „Autonomie des Rechts“ (S. 8) bleibt unklar.

Für alle seine Gewährsleute des 18. und 19. Jahrhunderts gilt aber der schon für Pufendorf getroffene Befund, dass „die Regierung des Staates nicht ohne die Regierung der Gefühle funktioniert“ (S. 65). Die jeweilige Mischung rationaler und sinnlicher Elemente mag dabei sehr verschieden austariert und unterschiedlich konstruiert sein, doch die Klassiker der Rechtsphilosophie vollziehen jedenfalls teilweise im 18. Jahrhundert einen „Paradigmenwechsel vom Vernunftrecht zum Gefühlsrecht“ (S. 84), der als politische Konsequenz die Betonung der Rechte des Menschen nach sich zieht. Eine Verletzung jener Rechte provoziert die Empörung als Empfindung gestörter Gerechtigkeit.

Um 1800 mischen sich anthropologische Elemente und bildungstheoretische Figuren zu einem „Rechtsidealismus“ (S. 150). Gut beobachtet und originell ist die ästhetische Komponente jener normativen Debatten (S. 202, 229). Auf sie kann in dieser Besprechung ebenso wenig eingegangen werden wie auf jene antinomischen Konsequenzen, die die Berufung auf Rechtsgefühl haben kann: Denn jenes wird teils aufgerufen, um Verrechtlichung zu fordern, teils um Deregulierungstendenzen zu begründen (S. 243). Es gehört zu den Stärken von Schmidts Dissertation, hier nicht verkürzend zu pauschalisieren. Stattdessen werden mit Scharfsinn und Freude am Formulieren Widersprüche aufgezeigt. Am Ende eines Abschnitts über die Bildung des Rechtsgefühls und Selbstdisziplinierung bei Goethe schließt Schmidt mit der „normativ regulierten und regulierenden Lust des Rechtsgefühls“ (S. 272), die zugunsten von Selbstdisziplinierung zu opfern ist. Ähnlich ambivalent beurteilt Schmidt die Volksgeistlehre, weil sie letztlich auf die Konstruktion eines „Expertengefühls“ (S. 299) hinausläuft, das die Juristen ermächtigt, aber nicht das Volk.

Anders gesagt: Rechtsgefühl kann als Topos ebenso dazu dienen, konservative Positionen zu untermauern wie auch reformerische oder gar revolutionäre Bestrebungen zu grundieren. Es befindet sich in einem prinzipiellen Spannungsverhältnis zum positiven Recht, von dem noch jede Berufung auf „gefühlte Rechtlichkeit“ (Friedrich Schlegel 1803) dort zehrt, wo über das Gute und Rechte geurteilt wird. Dankenswerterweise werden auch die historischen Abgründe jedenfalls angedeutet, in welche entfesselte Argumentation mit „Rechtsgefühl“ bzw. seinen Missbräuchen als „gesundes Volksempfinden“ führen kann und führte.

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